26.06.2024 09:00 AM

Zwischen Greenwashing und Biodiversity Credits: Was die Finanzwirtschaft mit dem Erhalt der Biodiversität zu tun hat

Eine der größten Herausforderungen im Bereich Nachhaltigkeit neben dem Kampf gegen den Klimawandel: der Erhalt der Biodiversität, der Vielfalt aller Arten und Ökosysteme. Es klafft eine riesige Finanzierungslücke von rund 700 Milliarden US-Dollar, die es pro Jahr bräuchte, und vor allem der Privatsektor ist gefragt. Werden Systeme wie Biodiversity Credits zur ultimativen Lösung. 

Der Erhalt von Biodiversität - eine der größten Herausforderungen im Bereich Nachhaltigkeit

Nachhaltigkeit ist mehr als CO₂-Reduktion. Und doch hat sich der wirtschaftliche Diskurs in den vergangenen Jahren sehr stark um sie gedreht. Unternehmen eiferten den NetZero-Zertifikaten nach. Neue Geschäftsmodelle rund um den CO₂-Fußabdruck und die -Kompensation schossen wie Pilze aus dem Boden.

Ein Thema, das bis heute nur wenig Beachtung findet , ist die Biodiversität. Sie umfasst drei wesentliche Aspekte: die genetische Vielfalt, die Artenvielfalt und die Vielfalt der Ökosysteme sowie die Strukturen innerhalb und zwischen den Lebensformen. Biodiversität sorgt für stabile Ökosysteme, die uns mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen versorgen, wie Nahrung, sauberes Wasser und Holz. Sie reguliert das Klima, die Wasserqualität, natürliche Schädlingsbekämpfung und vieles mehr. Es gibt sogar einen Sammelbegriff für die unterschiedlichen Beiträge, die Ökosysteme zum menschlichen Wohlbefinden leisten: Ökosystemleistungen. Kurz gesagt: Ohne Biodiversität könnten wir nicht überleben. Zudem ist der Verlust von Biodiversität einer der relevantesten globalen Risikofaktoren für viele Unternehmen, denn mehr als die Hälfte der globalen Wertschöpfung hängt moderat oder stark von Ökosystemleistungen ab, das entspricht etwa 44 Billionen US-Dollar jährlich.

Um die Bedeutung von Systemen wie Biodiversity Credits für den Erhalt der Biodiversität zu verstehen, ist zunächst die Erkenntnis wichtig, dass bereits ein partieller Verlust an Ökosystemleistungen fatale Folgen hätte. Er würde für Branchen wie Landwirtschaft, Bauwesen und die Lebensmittelindustrie massive Einbußen bedeuten. Die Weltbank schätzt, dass dies zu einem globalen BIP-Verlust von 2,3 Prozent führen könnte – oder in absoluten Zahlen: etwa 2,7 Billionen US-Dollar bis 2030.

Welle, mit drei größerwerdenden Wellen. Ganz oben Biodiversität

Wer noch mehr über Biodiversität und ihre Bedeutung für die Welt und die Wirtschaft erfahren möchte, kann sich den Impulsvortrag von Dr. Tobias Raffel von unserem Between the Towers anschauen. 

Die Finanzierungslücke für den Biodiversitätserhalt

Der Erhalt der Biodiversität ist mit hohen Kosten verbunden. Die aktuellsten Zahlen zu den Ausgaben für den Biodiversitätsschutz stammen aus dem Jahr 2019. Damals wurden weltweit rund 133 Milliarden US-Dollar investiert gemäß Zahlen des US-amerikanischen Paulson-Instituts. Es ist davon auszugehen, dass sich seither einiges bewegt hat. Schließlich lag die jährliche Investition in der Erhebung von 2019 bereits um 68 Prozent höher als noch der Durchschnitt der Jahre 2015 bis 2017. Sprich: Es tut sich was.

Die Frage stellt sich, ob diese 133 Milliarden US-Dollar ausreichend sind, wenn man bedenkt, dass gleichzeitig Subventionen in Höhe von 542 Milliarden US-Dollar in für die Biodiversität schädliche Praktiken fließen.

Das Paulson-Institut liefert die Antwort: Es bräuchte deutlich mehr. Die Finanzierungslücke – also die Differenz zwischen den derzeitigen und den eigentlich benötigten Investitionen – liegt irgendwo zwischen 598 und 824 Milliarden US-Dollar pro Jahr, wie die letzten Zahlen des Paulson-Instituts von 2019 zeigen. Auch die Vereinten Nationen beziffern die benötigte Summe auf jährlich rund 700 Milliarden.

Grafik, Finanzierungslücke Biodiversität

So groß ist die Finanzierungslücke im Bereich Biodiversität laut Zahlen des Paulson-Instituts.

Der Finanzsektor kann eine entscheidende Rolle bei der Schließung dieser Finanzierungslücke spielen. Um dieser Rolle gerecht zu werden, ist eine tiefgreifende Transformation bestehender Ansätze erforderlich. Regierungen müssten schädliche Subventionen abbauen und gleichzeitig regulatorische Instrumente schaffen, um mehr privates Kapital zu mobilisieren. Derzeit stammt fast 90 Prozent der Finanzierung aus staatlichen Mitteln – das ist stets schwer bewegliches, nur langsam mobilisierbares Kapital. Die Staaten der Welt können in der geringen noch zum Handeln verbleibenden Zeit die Rettung der Biodiversität nicht im Alleingang stemmen.

Um den Kollaps der Biodiversität abzuwenden, sind innovative Finanzierungsmodelle erforderlich. Im Folgenden möchte ich drei davon vorstellen.

Biodiversity Credits und weitere Finanzierungsszenarien für den Erhalt der Biodiversität

Im Rahmen meiner Bachelorarbeit bei neosfer habe ich drei alternative Möglichkeiten zur Förderung der Biodiversität untersucht. Nach einem mehrmonatigen Deep Dive möchte ich nun meine Einschätzung zu diesen drei Ansätzen teilen. Die folgenden drei Finanzierungswege stehen im Fokus:

  1. Regulatorische Biodiversity Offsets (Ökopunkte)
  2. Biodiversity Credits und
  3. Carbon Credits mit Nutzen für Biodiversität

Das älteste System: regulatorische Biodiversity Offsets (oder Ökopunkte)

Mit regulatorischen Biodiversity Offsets werden Eingriffe in die Natur kompensiert. Eine Kompensationsmaßnahme für einen Eingriff muss also genau die Komponenten von Biodiversität ersetzen, die durch den eben selben Eingriff geschädigt wurden. Dieses System existiert weltweit in unterschiedlichen Ausführungen in etwa 45 Staaten und Regionen.

In Deutschland ist dieses Prinzip im Naturschutzgesetz festgelegt und wird über sogenannte Ökopunkte umgesetzt: Unterschiedliche Arten von Flächen sind per Gesetz mit unterschiedlichen Wertpunkten versehen. Diese Ökopunkte können von Dritten, durch die Aufwertung oder Nutzungsveränderung von Flächen, generiert und frei gehandelt werden. Ein Unternehmen oder eine Gemeinde kann also lokal begrenzte Zertifikate kaufen, um ihre Eingriffe in die Natur zu kompensieren, sofern sie nicht eigene Ausgleichsmaßnahmen, wie etwa die Entsiegelung von Flächen, durchführen.
Die Akkreditierung und Handhabung unterscheiden sich allerdings je nach Bundesland teils enorm. Es bestehen große Mängel in der Umsetzung und der Pflege von Kompensationsflächen sowie bei der laufenden Kontrolle durch Behörden. Gemeinden erzeugen oder kaufen zunehmend Ökopunkte, um für potenzielle Bauprojekte attraktiver zu sein. Grund dafür ist die Voraussetzung, dass geeignete Kompensationsflächen häufig schon für einen Bauantrag benötigt werden. Ökopunkte, die noch keinem Eingriff zugeordnet wurden, werden für zehn Jahren mit 4 % festverzinst.

Naturschutzorganisationen bezweifeln den tatsächlichen Mehrwert dieses Systems seit Jahren. Es bestehen massive Mängel sowohl bei der regulatorischen Systematik als auch bei der Umsetzung von Kompensationsmaßnahmen. So wird etwa die Vergabe von Wertpunkten kritisiert, welche rein normativ und nicht wissenschaftlich fundiert stattfindet. Für wirklich zukunftsträchtig halte ich das System der Ökopunkte nicht. Es besteht seit mehr als 40 Jahren, ist enorm fehlerbehaftet und anfällig für Greenwashing. Häufig werden Biodiversity Offsets im selben Zusammenhang wie Biodiversity Credits genannt, doch hier handelt es sich um fundamental unterschiedliche Instrumente. Ich halte das letztere für wesentlich innovativer und unter Umständen vielversprechender für die Zukunft.

Sind Biodiversity Credits das Mittel zur Finanzierung?

Das Global Biodiversity Framework (GBF) – das ist so was wie das Pariser Klimaabkommen, aber für Biodiversität – nennt Biodiversity Credits explizit als innovatives Instrument, um die Finanzierungslücke zu schließen.

Im Gegensatz zu Offsets basieren Biodiversity Credits aktuell auf dem freiwilligen Markt. Unternehmen sind also nicht verpflichtet, diese zu nutzen, können dies aber tun, um Biodiversität über ihre eigenen Handlungen hinaus fördern. Es geht nicht um die Kompensation einzelner lokaler Maßnahmen, sondern um Projekte zur Wiederherstellung, Förderung und dem Schutz ganzer Ökosysteme.
Das Problem ist allerdings: Derzeit gibt es noch keine einheitlichen Messverfahren, Ausgabeeinheiten oder Verifizierungssysteme. Die aktuelle Marktreife ist mit der frühen Phase des freiwilligen CO₂-ZertifikateMarktes vergleichbar. Viele der derzeitigen Messverfahren zur Biodiversität basieren auf enorm komplexen Modellierungssystemen, die zum Beispiel Satellitenbilder auswerten und mit Videoaufnahmen, DNA- oder Akkustik-Messungen kombinieren, um so den Zustand der Natur zu beurteilen und die Auswirkungen von Projekten zu verfolgen.

Auch wenn immer mehr Biodiversity-Credit-Systeme und -Anbieter entstehen, ist der Markt noch sehr klein. Die acht größten Biodiversity-Credit-Systeme haben bisher nur ungefähr acht Millionen US-Dollar an Investitionen für Credits erhalten.

Oder doch Carbon Credits mit positiven Nebeneffekten für die Biodiversität?

Als Alternative zu den neuen Biodiversity Credits gewinnen Carbon-Credit-Systeme mit Co-Benefits für Biodiversität am Markt zunehmend an Bedeutung. Das Prinzip der Carbon Credits auf dem freiwilligen Markt ist bereits etabliert und erfolgreich. Hierbei wird CO₂ kompensiert, indem zum Beispiel Flächen aufgeforstet oder renaturiert werden. Wird dabei besonders stark Wert auf Biodiversität gelegt, ist von einem sogenannten Co-Benefit die Rede. Primär wird sequestriertes CO₂ bilanziert, allerdings entstehen dabei positive Nebeneffekte.

Carbon-Credit-Projekte können auch positive Auswirkungen auf die Biodiversität haben, zum Beispiel wenn ein Renaturierungsprojekt explizit vorhandene Arten ganzheitlich fördert und schützt. Solche Carbon Credits mit Co-Benefits werden übrigens häufiger gehandelt und sind wertvoller als andere Carbon Credits. Die Nachfrage steigt sogar schneller als das verfügbare Angebot.

Im Kern geht es bei beiden Credit-Systemen darum, dass Unternehmen Projekte durchführen und ihre Ergebnisse tokenisieren. Ein großer Unterschied liegt aktuell noch in der Messbarkeit der Ergebnisse. Während CO₂-Zertifikate immer auf Tonnen CO₂-Äquivalent bemessen werden, ist dies bei den Biodiversity Credits noch nicht vereinheitlicht.

Eine Prognose für die nähere Zukunft

Welche dieser drei Möglichkeiten werden in der Zukunft relevant sein bzw. in welcher Kombination? Zunächst einmal werden aus meiner Sicht regulatorische Biodiversity Offsets zwar relevant bleiben; sie bieten allerdings nur beschränktes Potenzial, um die Finanzierungslücke schnell zu schließen. In einem Bericht der Vereinten Nationen wird geschätzt, dass es noch bis zu drei Jahre dauern könnte, bis große Unternehmen bereit sind für den Handel mit Biodiversity Credits. Derzeit erarbeitet die Biodiversity Credit Alliance der Vereinten Nationen mögliche Use Cases. Das Weltwirtschaftsforum prognostiziert den Erfolg je nach möglichen Use Cases, wie in der Grafik erkennbar. Der Markt könnte extrem schnell wachsen – insbesondere wenn die Nutzung von Biodiversity Credits zur Kompensation unvermeidbarer Auswirkungen zulässig wird.

Szenarien der Vereinten Nationen, wie sich der Markt mit Biodiversity Credits entwickeln könnte.

Szenarien der Vereinten Nationen, wie sich der Markt mit Biodiversity Credits entwickeln könnte.

Die großen Fragen bleiben: Wird es eine einheitliche Bemessung von Biodiversität geben oder wird sich eine kontextuelle Betrachtung durchsetzen? Wie lange dauert es noch bis dahin? Mit welchem System wird man Unternehmen am ehesten dazu bringen, ihre Eingriffe in die Biodiversität zu kompensieren? Wie sorgt man dafür, dass vor der Kompensation eine tiefgreifende Evaluation und Reduktion der Auswirkungen auf die Natur stattfindet? Wie wird die Regulatorik zukünftig angepasst?

Für die nähere Zukunft zeichnet sich ab, dass Supply-Chain-orientierte Offsets und Credits eine starke Entwicklung durchlaufen könnten. Hierbei bildet sich aktuell noch eine Marktinfrastruktur und Richtlinien werden laufend aktualisiert. Inwiefern sich das sogenannte Credit-Stacking, also die Generierung verschiedener Credits (Biodiversity, CO2 etc.) durch ein Projekt etabliert, bleibt abzuwarten. Insbesondere der Abbau schädlicher Subventionen ist ein relevanter Hebel, um die Finanzierungslücke zu verringern. Neben den hier genannten Instrumenten bestehen selbstverständlich zahlreiche weitere Möglichkeiten zur Finanzierung von Biodiversität, etwa Green Bonds. Klar ist: Eine Vielzahl an Finanzierungsarten ist notwendig, um schnell mehr Kapital für den effektiven Naturschutz und damit den Erhalt der Biodiversität aufzubringen.