04.11.2024 09:48 AM

Deutschland, wie geht’s dir? Von Pandemie bis Handelskrieg – so steht es um die Wirtschaft

Disclaimer: Dieser Blogbeitrag ist ein Gastbeitrag von Peer Hitschke, Creditsafe, und wurde nicht von neosfer verfasst. Alle Inhalte wurden von Creditsafe bereitgestellt, etwaige Graphiken nur in die Corporate Identity von neosfer übertragen.

Unternehmen wie P&K, Real GmbH, das Traditionshaus Weck oder die zuletzt stark kritisierte Signa Gruppe stehen sinnbildlich für das, was das Jahr 2023 zeichnete: Insolvenzbekanntmachungen. Im Vergleich zum Vorjahr stiegen die Insolvenzverfahren in Deutschland um mehr als 30 Prozent. Teilweise wurden in einzelnen Quartalen Zuwächse von bis zu 40 Prozent verzeichnet. Doch was heißt das für die deutsche Wirtschaft und das Justizportal? War das schon die häufige Bekanntmachung der prognostizierten Insolvenzwelle?

Peer Hitschke, der Autor dieses Gastbeitrags und Risk Expert bei der Wirtschaftsauskunftei Creditsafe, weist darauf hin: Trotz des Anstiegs der veröffentlichen Insolvenzen im Jahr 2023 „fehlen“ im Vergleich zu einem durchschnittlichen Wirtschaftsjahr immer noch mehr als 60 Prozent der erwarteten erfolgten Insolvenzen. Seit 2020 hat sich ein erhebliches Minus an Unternehmensinsolvenzen aufgebaut. Der Wirtschaftsexperte hat die aktuelle Lage genau unter die Lupe genommen und beleuchtet Hintergründe der Entwicklung sowie die öffentlichen Strategien unserer europäischen Nachbarn und weiß, was die deutsche Wirtschaft erwartet.

Ausblick bedingt Rückblick: Insolvenzbekanntmachungen und Insolvenzverfahren in Deutschland 

Im Mai 2020, nach einem historischen siebenwöchigen Lockdown, stellten sich Ökonomen und Politiker die selbe Frage: Wie lange braucht die Wirtschaft, um sich von einem Einschnitt wie der Corona-Pandemie zu erholen?

Um eine fundierte Einschätzung zu ermöglichen, analysierte Creditsafe Daten ähnlicher Stressszenarien in westlichen Wirtschaftszonen. Unter anderem wurden hierbei Informationen zur schweren schwedischen Bankenkrise Anfang der 90er Jahre, der Dotcom-Blase oder der globalen Finanzkrise von 2008 analysiert. In Summe rechneten die Risk-Experten der Wirtschaftsauskunftei im Mai 2020 – ohne zusätzliche Effekte – mit einem Anstieg zahlungsunfähiger Unternehmen von deutlich über 50 Prozent und einer wirtschaftlichen Normalisierung auf das Vor-Corona-Niveau frühestens 2023.

Doch die Rückkehr zur vermeintlichen Normalität verlief anders: Die Pandemie zog sich länger als erwartet, Lieferketten erwiesen sich als anfällig und wurden durch den Krieg in der Ukraine zusätzlich unter Druck gesetzt. Die Energiewende, Handelsembargos und Wirtschaftstransformationen erschwerten die Lage zusätzlich. Eigentlich sollte ein exportorientiertes Deutschland aufgrund der gewachsenen Komplexität der globalen Wirtschaft und der Zunahme geopolitischer Risiken nun deutlich reagieren. Stattdessen sehen wir seit 2020 stark rückläufige Insolvenzzahlen. Während sich die Zahl der Geschäftsaufgaben mit Beginn der Pandemie jährlich signifikant erhöhte, sank die Insolvenzquote mit jedem Jahr deutlich. Trotz eines Anstiegs in 2023 blieben über 60 Prozent der erwarteten Insolvenzen eines harmonisierten Durchschnittsjahres aus.

Kontraproduktive Corona-Hilfen? Ein unnatürlicher Strukturwandel in der Wirtschaft 

Eine Rolle spielten die mehrfache Aussetzung der Insolvenzantragspflicht im ersten Jahr der Pandemie sowie die staatlichen Hilfen „Wumms“ und „Doppelwumms“. Weitaus weniger Unternehmen als erwartet meldeten Insolvenz an.

Insolvenzen im Monat

Auf den ersten Blick scheint es widersprüchlich, doch Insolvenzen genauso wie Geschäftsaufgaben sind zu einem gewissen Grad ein notwendiger Bestandteil einer funktionalen Wirtschaft. Sie stärken gesunde, zukunftsfähige Unternehmen, während ineffiziente Geschäftsmodelle verschwinden. So geben sie dem Markt Ressourcen frei und unterstützen die Transformation der Wirtschaft. Durch die massiven staatlichen Eingriffe blieb diese Marktbereinigung jedoch größtenteils aus und sorgte für das Überleben nicht marktfähiger Unternehmen, die auf sich alleingestellt nicht bestehen könnten.

Unterschiede in der Krisenbewältigung bei Insolvenzbekanntmachungen: Wirtschaftsförderung statt Digitalisierung 

Im Vergleich zu anderen EU-Staaten zeigt sich, dass Deutschland signifikante Unterschiede in der Krisenbewältigung aufzeigt. Schweden und Dänemark setzten stärker auf Digitalisierung und Selbstheilung und weniger auf direkte Unternehmensförderung. In Schweden beispielsweise konnten während der Pandemie aufgrund des hohen Digitalisierungsgrades beinahe sämtliche Unternehmensprozesse weiterlaufen. Zudem war man im Umgang mit Unternehmenshilfen in Skandinavien wesentlich restriktiver, während die Hälfte der in der EU ausgeschütteten staatlichen Hilfen an deutsche Unternehmen flossen.

Diese Effekte spiegeln sich in den Insolvenzzahlen seit Beginn der Pandemie wider: Im Vergleich war die Insolvenzquote in Dänemark zwanzigmal höher als in den Niederlanden und immer noch mehr als sechsmal so hoch wie in Deutschland. Insgesamt führten die Pandemiejahre in Dänemark zu einem Plus von 59 Prozent an Insolvenzen. Im Vergleich: Unser skandinavischer Nachbar hatte von 2018 zu 2023 einen Zuwachs von 78 Prozent. Für Deutschland lagen die Insolvenzen im letzten Jahr immerhin 11 Prozent höher als noch in 2018. In den Niederlanden wiederum lag man mit -12 Prozent sogar weit unter den Insolvenzzahlen von 2018.

Insolvenzen Covid

Bekanntmachung: Deutschland steht vor großen Herausforderungen. Wie kann man handeln?

Aktuell befindet sich hinter der deutschen Wirtschaft ein großes Fragezeichen. Sie ist im Vergleich zu anderen Wirtschaftsregionen überdurchschnittlich stark abhängig, erhielt gleichzeitig aber überproportional hohe Staatshilfen.

Klar ist, die Welt befindet sich inmitten einer wirtschaftlichen- und auch geopolitischen Transformation. Weg von fossilen Energien, hin zu mehr Digitalisierung und Eigenverantwortung mit höheren Anforderungen an Lieferketten.

Deutschland steht vor großen Herausforderungen. Die überdurchschnittlich starke Abhängigkeit von anderen Wirtschaftsräumen, kombiniert mit hohen Staatshilfen, wirft Fragen über die langfristige wirtschaftliche Stabilität auf. Zudem wurde die Zeit der staatlichen Eingriffe nicht genutzt, um notwendige Strukturwandel einzuleiten und Reformen in Richtung Digitalisierung sowie nachhaltiger Transformation voranzutreiben. Stattdessen wurden Förderungen breit gestreut und auch überholte Geschäftsmodelle am Leben erhalten. Hier fehlen klare Vorgaben und eine strategische Ausrichtung seitens der Politik.

Viele notwendige Ressourcen sind aktuell schlichtweg nicht im benötigten Maß vorhanden oder sind in nicht-zukunftsfähigen Unternehmen gebunden. Zudem gibt es einen klaren Nachholbedarf in Sachen Transparenz. In den meisten europäischen Ländern sind Unternehmen jeder Größe laut der Justiz gesetzlich verpflichtet, ihre wirtschaftliche Lage samt Gewinn- und Verlustrechnung (GuV) zeitnah offenzulegen. In Deutschland veröffentlichen nur weniger als 2 Prozent der registerlich geführten Unternehmen eine GuV. Ein Drittel ist von den Veröffentlichungspflichten gänzlich befreit oder scheut nicht die verhältnismäßig geringen Folgen der Versäumnisse. Auch bestehende Fristen werden oft nicht eingehalten: Durchschnittlich wird die Veröffentlichungsfrist von 12 Monaten nach Abschluss des Wirtschaftsjahres um mehr als fünf Monate überschritten. Unternehmen im europäischen Ausland wären bei solchen Verstößen vermutlich längst liquidiert oder zumindest geschlossen worden. Hier braucht es eine gemeinschaftlichere Haltung der EU, des Bundes und der Länder.

Um sein Unternehmen in wirtschaftlich unsicheren Zeit zu schützen und eine Insolvenzordnung und das Gericht zu meiden, ist es essenziell, das eigene Risikomanagement auszubauen und zu stärken. Indem langfristige Risiken genau bewertet und entsprechende Maßnahmen ergriffen werden, können potenzielle Gefahren frühzeitig erkannt und negative Auswirkungen auf das Geschäft minimiert werden. Insbesondere internationale Krisen erfordern eine ausgeteilte Strategie und eine aktuelle Datengrundlage, um fundierte Entscheidungen treffen zu können. Nur so lassen sich die anstehenden wirtschaftlichen Herausforderungen meistern und nachhaltiges Wachstum ermöglichen.

Lust auf weitere Beiträge rund um Insolvenzen und Finance?

Insolvenzwelle in Deutschland?
VC-Fonds der SFDR - Regulation, Verordnung und Ausblick - Blogbeitrag