Earned Wage Access (EWA) ermöglicht Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern den vorzeitigen Zugriff auf ihr bereits verdientes Gehalt. EWA soll helfen, finanzielle Engpässe zu vermeiden und die Notwendigkeit von Krediten zu reduzieren, kann jedoch auch Herausforderungen mit sich bringen. Während dieses Modell im Zuge des Trendthemas „New Pay“ in Ländern wie den USA und Großbritannien bereits etabliert ist, steckt es in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Warum sich EWA in Deutschland so schwer tut, haben wir in diesem Beitrag untersucht.
New Pay: Warum sich Earned Wage Access in Deutschland schwer tut
Finanzwirtschaft als Treiber von New Pay Lösungen
Die Arbeitswelt befindet sich im Wandel und der Fachkräftemangel beschleunigt diese Transformation. „New Work braucht New Pay“ ist eine populäre Forderung, die darauf hinweist, dass moderne Arbeitsmodelle auch flexible und zeitgemäße Entlohnungsstrukturen erfordern und neue Vergütungsmodelle miteinbeziehen. New Pay bezeichnet Gehaltsmodelle, die sich an den individuellen Bedürfnissen und Lebenssituationen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter orientieren, anstatt strikt an traditionellen, starren Gehaltsstrukturen festzuhalten und die Mitbestimmung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erhöht.
Die Finanzwirtschaft ist hier nicht nur Anwender von New Work, sondern kann mit finanztechnologischen Lösungen auch Teil der Lösung sein. Beim Thema Flexible Pay geht es darum, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Zugang zu einem Teil ihres Gehalts vor der regulären Auszahlung zu ermöglichen. Diese Anwendungen müssen sicher, gesetzeskonform und in der Praxis umsetzbar sein, um den Bedürfnissen der modernen Arbeitswelt gerecht zu werden.
Eine Unterform von Flexible Pay ist Earned Wage Access (EWA). Davon spricht man, wenn es eine Lösung ermöglicht, einen Teil des bereits verdienten Gehalts frühzeitig, also vor der üblichen Auszahlung, zu erhalten. Rechtlich gesehen ist das dann kein Kredit. Wenn jedoch mehr als das verdiente Gehalt ausgezahlt wird, handelt es sich um Early Wage Access. Obwohl diese Begriffe sprachlich sehr ähnlich klingen, haben sie aufgrund regulatorischer Unterschiede in der Praxis große Auswirkungen und sind andere Vergütungssysteme.
Dieser Beitrag konzentriert sich ausschließlich auf reines Earned Wage Access, wörtlich übersetzt Zugang zum verdienten Gehalt. Dieses Modell entstand in der Gig Economy, also einem Teil des Arbeitsmarkts, der durch kurzfristige und flexible Beschäftigungsverhältnisse geprägt ist. Und es hat sich international, insbesondere in den USA und Großbritannien, etabliert. EWA hilft, finanzielle Engpässe zu vermeiden und reduziert den Bedarf an Krediten. Arbeitgeber profitieren von reduzierten Fehlzeiten und erhöhter Leistungsfähigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und geben ihnen Transparenz. Natürlich gibt es Lohnvorschüsse schon viel länger als EWA, aber sie sind nicht gern gesehen. Denn sie verursachen hohe Verwaltungsaufwände, da es sich um mühsame Einzelfälle handelt. Genau hier setzt EWA an, indem es mit technologischen Lösungen die Bearbeitung automatisiert und somit Kosten spart. Grundsätzlich ist EWA in Deutschland noch neu, könnte aber angesichts steigender Lebenshaltungskosten und eines sich verschärfenden Fachkräftemangels an Bedeutung gewinnen.
Gerade mal zwei EWA-Anbieter in Deutschland
In Deutschland gibt es bisher lediglich zwei Anbieter von EWA: Happy und Paygood. Beide bieten App-basierte Lösungen, bei denen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihr Gehaltskonto verknüpfen und vorzeitigen Zugriff auf einen Teil ihrer erwarteten Vergütung erhalten. Bei Happy ist es maximal ein Drittel und die Auszahlung erfolgt über Gutscheine, die bei verschiedenen Händlern eingelöst werden können. Bei Paygood hingegen gibt es maximal die Hälfte des Monatsnettos vorab. Die Auszahlung erfolgt per Überweisung. Bei anderen, hierzulande (noch) nicht aktiven Anbietern wird der Vorschuss über eine Prepaid-Kreditkarte ausbezahlt, was die Auszahlung noch weiter beschleunigt.
New Pay mit EWA verspricht Gutes - wir wollten mehr wissen
Wir sind bei neosfer vor einiger Zeit in einem unserer DRIFT-Prozesse auf New Pay und EWA gestoßen. Wir nutzen DRIFT als strukturierten Innovationsprozess, um neue Geschäftsmodelle zu entwickeln und zu validieren. Im Rahmen des Prozesses arbeiten Kolleginnen und Kollegen unserer drei Teams Invest, Build und Connect zusammen. Ziel von DRIFT ist es, innovative Ideen zu diskutieren und die besten von ihnen in das 100-Tage-Programm zu überführen, in dem sie zu Prototypen entwickelt werden.
Wir finden das Thema EWA so spannend, weil es unsere beiden Leidenschaften bei neosfer anspricht: Nachhaltigkeit und Fintech. EWA-Anbieter versprechen, durch vorgezogene Gehaltszahlungen die finanzielle Flexibilität zu erhöhen und das „Financial Well-Being“ der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu verbessern und so Fairness zu schaffen. Dies soll finanziellen Stress reduzieren und armutsgefährdeten Personen helfen, finanziell inkludiert zu werden, und würde damit ins achte Nachhaltigkeitsziel der UN fallen: Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum. Noch fehlen für Deutschland wissenschaftliche Belege für diese Argumentation. Und aus der Fintech-Perspektive ist dies ebenfalls spannend: Obwohl die Forderung nach schnellerem Zugang zum verdienten Geld einfach klingt, sind die dahinterliegenden Prozesse zwischen Arbeitnehmer:in, Arbeitgeber:in, EWA-Anbieter und Geschäftsbank äußerst komplex.
EWA in Deutschland: Noch gar nicht richtig gestartet oder schon gescheitert?
Wir haben uns die internationalen Erfolgsgeschichten von EWA angeschaut. Verglichen damit sind die Aktivitäten des neuen Vergütungssystems auf dem deutschen Markt sehr überschaubar. Und wir haben uns gefragt, woran das liegen könnte. Zum Status Quo von New Pay via EWA in Deutschland haben wir mit einigen Expertinnen und Experten gesprochen und die folgende Liste erstellt.
1. Neu Denken: EWA ist unbekannt
„Flexible-Pay-Lösungen sind in Deutschland noch weitestgehend unbekannt“, sagt Boris Alles, Fachanwalt für Arbeitsrecht bei CMS Hasche Sigle. Klingt simpel, aber wenn weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das innovative Tool kennen, kommt in der Praxis auch niemand auf die Idee, es einzusetzen.
2. Regulatorisches Neuland beim Gehaltsmodell New Pay
Eine Herausforderung für EWA in Deutschland ist sicherlich auch, dass sich das Modell EWA an der Schnittstelle zweier hierzulande stark regulierter Bereiche bewegt: “Es geht um Finanzmarkt-Regulierung, also um Zahlungen, Konten, Finanzierung. Das sind komplizierte Themen, die eine entsprechend starke Organisations- und Kapitalausstattung erfordern. Deswegen kann nicht jeder EWA anbieten. Außerdem hat man es mit der HR-Payroll zu tun, die ebenfalls reguliert ist“, fasst Jan Riem, Gründer der EWA-Lösung Happy, die Lage der New Pay Journey zusammen.
3. Deutsche Unternehmen nicht First Mover
„Die Unternehmen in Deutschland sind erfahrungsgemäß eher zurückhaltend, wenn es um Veränderungen bei bewährten Methoden geht“, ergänzt Kira Falter, ebenfalls Fachanwältin für Arbeitsrecht bei CMS Hasche Sigle. Im Thema Vergütung ist die die monatliche Lohnabrechnung und -auszahlung in Deutschland seit Gründung der Bundesrepublik üblich und im Gesetz verankert. „Es bringt die Personalbuchhaltung total durcheinander, wenn du sowas einführst. Und du musst gegen Gewohnheiten ankämpfen, die sich über Jahrzehnte etabliert haben“, weiß Laurent Burdin, Gründer der Innovationsberatung Space & Lemon.
4. EWA als Vergütungsmodell ist teuer
Auch wenn bei EWA keine Zinsen fällig werden, ist es doch teuer: „Im klassischen B2B Modell, wie man es aus anderen Märkten kennt, entstehen Onboarding-Kosten durch Proxykonten und das KYC der Mitarbeiter”, erklärt Jan Riem. „Hinzu kommen die Finanzierungskosten für die EWA Inanspruchnahme. Diese Kosten werden meist in Form von Transaktionsgebühren oder Abonnements weitergegeben. Übernimmt der Arbeitgeber diese Kosten nicht, können diese Kosten, insbesondere bei häufiger Nutzung, für Mitarbeiter schnell teuer wirken.“ Hoher Verwaltungsaufwand entsteht zusätzlich durch die Integration und Pflege von administrativen Systemen.
5. Fehlende Standards bei der Gehaltsabrechnung
In Deutschland gibt es keine verbindlichen Standards für Zeiterfassung und Lohnbuchhaltung, was die Integration von EWA-Systemen erschwert. „Die Integration von EWA-Systemen in bestehende Lohnabrechnungs- und HR-Systeme kann technisch anspruchsvoll sein“, sagt Tim Schütte, General Manager bei Paychex, dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich um die Gehaltsabrechnung von über 6.000 Unternehmen kümmern. In anderen EU-Mitgliedstaaten gebe es ebenfalls keine einheitlichen Standards, was die Expansion von EWA zusätzlich erschwere, weiß Kurt Beckers, Co-Founder und Geschäftsführer der EWA-Lösung Paygood.
6. EWA und Überschuldung bei Selbstverantwortung
Ein weiterer Grund für die Zurückhaltung bei EWA in Deutschland ist die Angst vor Überschuldung. „Auch ohne Verzinsung birgt dies besondere Überschuldungsgefahren, denen sich die Arbeitnehmer:innen aussetzen“, sagt Sally Peters, Geschäftsführerin des Internationalen Instituts für Finanzdienstleistungen (IFF), das zu finanziellem Verbraucherschutz praxisnah forscht. Und Innovationsforscher Laurent Burdin meint dazu: „Nach der Hälfte des Monats kannst du ein Viertel deines Gehalts anfordern. Trägt das zur finanziellen Gesundheit bei? Ich glaube nicht. Im Gegenteil, das ist ein Warnsignal“.
7. Recht auf Lohnvorschuss und andere Kulturen
Warum ist EWA in anderen europäischen Ländern weiter verbreitet? In Frankreich und Spanien gibt es einen Rechtsanspruch auf Lohnvorschuss, was den Anbietern einen Vorteil verschafft hat, erklärt EWA-Gründer Jan Riem. Kulturelle Unterschiede spielen ebenfalls eine Rolle, gibt Laurent Burdin zu bedenken: „In Großbritannien sind wöchentliche Zahlungen in der Unternehmenskultur üblich. Das bedeutet, sehr schnell an sein Gehalt zu kommen. Ich habe mal in England studiert und meinen Strom wöchentlich bezahlt, nicht monatlich. Bei diesem Rhythmus ist man schon viel näher an EWA dran als bei uns in Kontinentaleuropa.“
8. Alternativen zu dem Gehaltsmodell EWA
Das deutsche Finanzsystem bietet Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vergleichsweise schnelle, sichere und kostengünstige Kreditoptionen, wie den Dispo- oder Konsumentenkredit, erklärt Tim Schütte von Paychex. Zudem unterstützt ein ausgeprägtes soziales Sicherheitssystem bei finanziellen Engpässen, wie Arbeitslosen- und Bürgergeld. Dadurch ist der Bedarf für EWA in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern möglicherweise einfach geringer.
New Pay mit EWA in Deutschland: Ein abschließendes Fazit
EWA, als Instrument von New Pay, hat das Potenzial, die finanzielle Flexibilität von Arbeitnehmer:innen mehr zu erhöhen und zur finanziellen Inklusion beizutragen. In Deutschland steht es vor Herausforderungen. Geringe Bekanntheit, strenge regulatorische Anforderungen und die Zurückhaltung deutscher Unternehmen erschweren die Einführung. Zudem sind die Kosten für EWA, einschließlich Onboarding und Administration, hoch. Fehlende Standards in der Lohnbuchhaltung und die Angst vor Überschuldung tragen ebenfalls zur Zurückhaltung bei. Kulturelle Unterschiede und das soziale Sicherheitssystem in Deutschland reduzieren möglicherweise den Bedarf für EWA.
Langfristig betrachtet ist die monatliche Gehaltsauszahlung jedoch kein Naturgesetz, sondern hat sich über lange Zeit etabliert und ist zum festen Bestandteil der deutschen Arbeitskultur geworden. Und Kulturen können sich ändern und wir alle Vergütungen neu denken. Vor dem Hintergrund von Megatrends wie „Instant Gratification“ scheint eine Flexibilisierung der Gehaltszahlung durchaus möglich. Und auch der Bekanntheitsgrad kann steigen, Regulatoren für Klarheit sorgen und Unternehmen sich öffnen, gerade wenn die nächste Generation an Entscheidungsträgerinnen und -trägern entsprechende Rollen übernimmt. Wer EWA will, wer dagegen ist, wer profitiert und wer nicht, steht heute noch nicht fest. Wir bei neosfer werden das Thema jedenfalls weiterhin mit Neugierde beobachten.